Der Abend des Schwanenkönigs
Day saß oben ihm Geäst eines Baumes und blickte hinab auf das plitschernde,
plätschernde Wasser des Sees. Sein verschwommenes Spiegelbild grinste ihm
fröhlich entgegen. Der laue Wind des Spätsommers erfasste ihn und strich
sachte über sein Gesicht. Lächelnd drehte er es in den Wind, um sich von der
angenehmen Wärme streicheln zu lassen.
Es war ein sonderbar schöner Tag, fand Day, als er mit den nackten Beinen
baumelte und zwischen den grünen Blättern hindurch zum Ufer unter ihm späte.
Unheimlich ruhig und von einer zarten Süße des endenden Sommers erfüllt. Mit
einem leisen Schnüffeln zog er die Luft ein. Ein leises Rascheln erklang
unter ihm und er legte sich auf den Ast, um es zu erkunden. Mühsam ruckelte
er sich zurecht, damit er kein Ästchen abknickte und sah sich suchend um.
Dann fiel sein Blick auf den wunderschönen, jungen Mann der unbewegt am Ufer
stand und sein Spiegelbild im Wasser betrachtete.
~
Es neigte ein Schwanenkönig seinen Hals auf das Wasser hinab.
Sein Gefieder war weiß wie am ersten Tag, rein wie Sirenenton.
Und im Glitzern der Morgensonne sieht er in den Spiegel der Wellen hinein,
und mit brechenden Augen weiß er: Das wird sein Abschied sein.
~
Über ihm stieß seine Schwester Night, welche kopfüber von einem Ast hing,
ihren gemeinsamen Freund Sun an. "Es ist der König", flüsterte sie und Sun
nickte beifällig, was von einem Knistern begleitet wurde. Days Augen ruhten
auf dem jungen Mann unter ihm. Die langen weißen Glieder waren makellos und
schön anzusehen, nur ein kurzer Lendenschurz und leichte Sandalen kleideten
ihn, und sein Haar fiel glatt wie das Wasser und weiß wie Wolken über seine
Schultern und seinen Rücken bis auf seine Hüfte hernieder. "Er ist es",
stimmte er seiner Schwester zu und kletterte weiter den Ast hinab, um näher
an den jungen Schwan zu kommen. Eine schmale Kette lag um seinen Hals, an der
eine einzelne rein weiße Schwanenfeder hing, das einzige Zeichen seiner
großen Würde.
Der Wind strich erneut über Days Haut und ließ die Äste der Trauerweide
schwanken, und auch das Haar des Königs wehte zärtlich bewegt im Wind.
Er ließ sich auf den Boden sinken, stützte sich mit einer Hand im Gras ab und
streckte die Hand aus, um die Wasseroberfläche mit der Spitze seines
Zeigefingers zu berühren. Und dann hob er den Kopf an und blickte hinauf in
den klaren Himmel, die Sonne schien glänzend auf das weiche Gesicht hinab.
Seine klare, warme Stimme klang zu Day hinauf und berührte ihn tief in seiner
Seele und alles verstummte. Selbst das Rauschen der Bäume schien aufzuhören.
Kein Tier sprach, kein Vögel sang - alles lauschte dem edlen König der
Schwäne.
~
Wenn ein Schwan singt, schweigen die Tiere.
Wenn ein Schwan singt, lauschen die Tiere.
Und sie raunen sich leise zu, raunen sich leise zu:
Es ist ein Schwanenkönig, der in Liebe stirbt.
~
Über ihm flüsterte Night kaum hörbar "Er stirbt in Liebe, hört ihn an", doch
niemand bewegte sich, niemand nickte. Alle sahen gebannt hinab auf den jungen
Mann, der so traurig am Ufer saß und sang, seine Stimme schwebte über allem,
wunderbar klar und fesselnd. Day hatte noch nie solch schöne Töne und Worte
vernommen.
"Mein Leben, mein langes Leben lang,
schritt ich voran
Ganz ungerührt,
unberührt
und unendlich allein."
~
Und es begann der Schwanenkönig zu singen sein erstes Lied,
unter der Trauerweide, wo er sein Leben geliebt.
Und er singt in den schönsten Tönen, die man je auf Erden gehört,
von der Schönheit dieser Erde, die ihn unsterblich betört.
Wenn ein Schwan singt, schweigen die Tiere.
Wenn ein Schwan singt, lauschen die Tiere.
Und sie raunen sich leise zu, raunen sich leise zu:
Es ist ein Schwanenkönig, der in Liebe stirbt.
~
Day war so bezaubert, dass er gar nicht bemerkte, dass sein linkes Bein
einschlief, aber ihn interessierte es auch überhaupt nicht. Während er noch
ein wenig näher zu dem König robbte, kletterten Night und Sun zu ihm hinab,
ließen sich nah bei ihm nieder. Sie durften diesem wunderschönen Gesang
lauschen und das erfüllte sie mit Freude.
"Dann sah ich dich und die Erde
die Schönheit, die werde
Und die Einsamkeit,
die mich eingesperrt
Mein Leben mir verwehrt,
verflog"
"Kein Kind, keine Sonne
waren mir solche Wonne,
wie zu sehen dein Gesicht
zu fühlen deine Haut,
unter Sommerlaub
zu ruh'n."
"Das Licht der Welt
glänzte mehr wie Geld,
war schöner, war verboten
Ließ mich ganz verlockt
In deine Arme fallen,
dem armen Boten."
"Alles schöne, alles Gute
war in deinem Mute,
dein Antlitz
aber war die Welt,
die mich hier behält.
Verlor'n."
"Es schickt das Ende sich,
zu holen mich,
in seine Gefilde,
wo du schon lange weilst,
wo du meine Wunden heilst.
Im Tode."
~
Und es singt der Schwanenkönig seinen ganzen letzten Tag,
bis die Abendsonne still ins Dunkelrot flieht.
Lautlos die Trauerweide senkt ihre Blätter wie Lanzen hinab.
Leiser und leiser die Töne, bis das letzte Licht im Gesang verglüht.
~
Tiefe Traurigkeit überkam Day und er wischte sich unbewußt über die feuchten
Wangen. Die Zeit schien zu verfliegen, während sie dem Schwanenkönig
lauschten. Die roten Strahlen, die sanft auf sein Gesicht fielen, brachen
sich in seinem von Trauer und Einsamkeit erfüllten Blick. Immer leiser wurde
seine Stimme, bis sie fast ganz verklang.
"Und du mich zu dir holst,
meine Wunden zu heilen,
Als letzten Trost"
Dann brach die zarte Stimme und erklang nicht mehr. Lautlos legte sich der
König nieder, die geöffneten Augen der Sonne zugewandt und lächelte sanft.
Die Zweige der Weide senkten sich tiefer, als streckten sie sich nach ihm.
Einzelne Blätter fielen lautlos zu Boden. Unendlich langsam schloss er seine
Augen und alles Leben wich aus ihm. Eine unheimliche Stille legte sich über
alles. Alle schwiegen, doch irgendwann beugte Night sich ein wenig vor, den
Kopf tief gesenkt, und flüsterte "Er ist ein König, der in Liebe stirbt."
Und sie alle hielten ihre Köpfe ehrfürchtig gesenkt und dachten das Gleiche.
Ein warmer Wind strich über sie und hüllte ihre Körper ein, streichelte sie,
als wolle er ihnen einen Trost spenden.
~
Wenn ein Schwan singt, lauschen die Tiere.
Wenn ein Schwan singt, schweigen die Tiere.
Und sie neigen sich tief hinab, raunen sich leise zu:
Es ist ein Schwanenkönig, der in Liebe stirbt.
~