Der gesichtslose Maler
von paddel

V

 
 
 
or langer, langer Zeit in einem weit entfernten Land am Meer lebten ein König und eine Königin, die hatten zwei Kinder. Einen Sohn und eine Tochter. Beide waren für ihre Schönheit und Großherzigkeit bekannt.
Eines Tages ritten die beiden Geschwister auf ihren Pferden, die sie zum sechzehnten Geburtstag bekommen hatten, am Meeresstrand entlang. Sie waren glücklich und ließen lachend die Hengste durch das flache Wasser laufen. Da tauchte plötzlich vor ihnen eine Nixe auf. Ihr Antlitz war wunderschön, doch aus den Augen sprang den beiden Königskindern Habgier und Eitelkeit entgegen. Mit lieb säuselnder Stimme sagte sie zum Prinzen: "Heirate mich, mein schöner Jüngling, und ich werde dir ein ganzes Königreich zu Füßen legen."
Aber der Prinz antwortete nur: "Ich möchte dich nicht heiraten." Und tob mit seiner Schwester davon. Am Abend erzählten sie ihren Eltern von der Begegnung. Sogleich besorgt riet der König den Kindern nicht mehr all zu bald an das Meer zu gehen, denn auch er hatte schon von der hübschen doch grausamen Meerjungfrau gehört.
Sieben Tage hielten es die Geschwister aus ohne das Meer zu besuchen. Am achten war die Sehnsucht so groß, dass sie wieder zum Stand ritten.
Darauf hatte die Nixe nur gewartet. In einer großen Welle rauschte sie bis zum Strand und sprach: "Dafür, dass du mich verschmäht hast, werde ich mich rechen!" Sie riss die Prinzessin vom Ross und entführte sie in die Tiefe der See. Der Prinz wollte seine Schwester retten und lief ebenfalls ins Wasser, um der Meerjungfrau hinterher zu tauchen. Als die Nixe dies bemerkte, verwandelte sie ihn in einem Fisch.

Im Schloss warteten der König und die Königin voller Sorge bis zum späten Abend auf ihre Kinder. Auch die Nacht durch taten sie kein Auge zu in der Hoffnung sie würden noch kommen. Am nächsten Morgen sandte der König seine Wachen in das ganze Königreich aus. Doch niemand fand die beiden und das Königspaar wurde immer trauriger.
Ein Bauer, der seine Felder nahe der See bewirtschaftete, kam zum König und erzählte ihm, er habe gesehen, wie eine Nixe die beiden entführt hätte. So ließ der König eine Kundgebung ausrufen. Derjenige, der ihm seine beiden Kinder zurück brachte, würde das halbe Königreich und neun Getreidesäcke voll Gold erhalten.
Viele Männer, vom Prinzen bis zum Müller, versuchten sich daran, doch ein jeder scheiterte.

In einem fremden Land hörte der junge Prinz Selim von der traurigen Geschichte der beiden Geschwister und zog los, sein Glück zu versuchen. Viele Tage reiste er immer Richtung des Meeres. Auf seinem Weg wanderte er durch einen Wald. Dort traf er eine seltsame Gestalt. Ganz und gar in Lumpen gehüllt, ein Tuch um den Kopf geschlungen, so dass das gesamte Gesicht verdeckt war, presste der Mann einen hässlichen, alten Sack an seinen Körper und irrte umher. Ständig stolperte er über Wurzeln sowie Kuhlen im Boden und bat mit zittriger Stimme um Hilfe.
Da trat der Prinz auf den Lumpenmann zu und fragte wie er denn helfen könne.
"Ich habe kein Gesicht und kann daher nicht sehen wohin ich laufe.", antwortete der Mann.
"Wenn das so ist, dann will ich dir zur Hand gehen. Wohin so ich dich bringen?", fragte der Prinz.
"In die nächste Stadt. Aber da ich nicht weiß, in welcher ich vorher war, kann ich dir auch nicht sagen, welche die nächste ist."
Selim dachte kurz nach. "Dann komm doch einfach mit mir mit. Ich bin auf dem Weg zum Meer und komme sicher noch durch einige Städte und Dörfer. Du sucht dir einfach aus, wo es dir gefällt."
Damit einverstanden begleitete der gesichtslose Mann den Prinzen. Bei einer Lichtung fragte er Selim, ob sie eine Pause machen könnten. So ruhten sie ihre Füße aus und der Mann öffnete seinen Sack und holte etwas Papier, Pinsel und Farbe heraus und begann zu malen. Verwundert sah ihm der Prinz dabei zu. Schließlich fragte er ganz erstaunt, wie er ohne zu sehen zeichnen konnte. Leider war es dem Mann nicht möglich darauf zu antworten, weil er es selbst nicht wusste.
Nach einiger Zeit machten sie sich wieder auf den Weg. Selim fragte seinen Weggenossen, ob er nicht etwas über sich erzählen wolle.
"Was möchtest du den wissen?"
"Wieso bist du von der vorigen Stadt weggegangen?"

Also berichtete der gesichtslose Mann, dass er dort versucht hatte eine Arbeit als Maler zu finden. Ein reicher Kaufmann wollte ein Portrait. Nachdem der Gesichtslose es fertig gestellt hatte und seinen Lohn einforderte, meinte der Kaufmann nur, dass jemand, der kein Gesicht oder Augen habe, auch kein Maler sein könne. Er ließ den Mann aus dem Haus und der Stadt in den Wald jagen. Er konnte nur noch gerade so sein Bündel mit dem Malzeug fassten und mit sich nehmen.

Als er seine Geschichte beendet hatte, fragte der gesichtslose Maler Selim, was ihn ans Meer führen würde.
Dieser schilderte die Geschehnisse um die entführte Prinzessin und die Nixe. Besorgt riet ihm der Maler von seinem Vorhaben die Prinzessin zu retten ab, denn er kannte die Meerjungfrau als eine bösartige und hinterlistige Frau. Außerdem verwandelte sich jeder Eindringling, der ihr in die Augen sah, in einen Fisch.
Dann würde der Prinz ihr nicht in die Augen sehen, meinte er.
Der Maler lachte und sagte: "Jeder der ihre Stimme hört, ist wie verhext und will ihr unbedingt in die Augen sehen."
Dann würde Selim sich die Ohren zuhalten.
"Wie willst du so hören, wenn sie sich anschleicht und dir plötzlich in die Augen sieht?"
Dann würde er eben auch die Augen schließen. Ungehalten über so viel Torheit, fragte der Maler: "Und wie willst du taub, blind und ohne freie Hände sie oder ihre Wachen bekämpfen?"

Eine Weile schwiegen die beiden, bis der Prinz wissen wollte, woher der Maler all das wusste, und erfuhr, dass dieser schon einmal von der Nixe entführt worden war. Er sollte ein Bild von ihr anfertigen. Dabei wurde er von zwei riesigen Wachen bewacht. Und auch im ganzen Schloss liefen Soldaten umher. Statt bissigen Hunden hatte sie übergroße Fische mit scharfen Zähnen, die den Feinden die Köpfe abrissen. Außerdem hausten in den dunklen Kellern Wesen mit ganze vielen Armen, die einen erwürgten, wenn man ihnen zu nahe kam. Jedoch ließ Selim sich trotz der Warnungen des Gesichtslosen nicht davon abbringen, die Prinzessin und ihren Bruder zu befreien.
Weil der junge Prinz dem Gesichtslosen ans Herz gewachsen war, beschloss er im zu helfen und sie zogen zusammen los zum Meer. Nach langen Tagen des Wanderns erreichen sie endlich ihr Ziel an einem späten Abend. Bei etwas Wegzehrung fragte der Selim den Freund, wie sie in das Reich der Nixe kamen. Der Maler sagte, dass sie sie nur rufen müssten. Zuvor sollten sie sich aber eine List überlegen, denn anders könnten sie die Nixe mit all ihren Wächtern nicht besiegen. Die ganze Nacht überlegten die beiden, bis dem Maler eine Idee kam.

Mit dem Prinzen rieb er in dessen Kleider Erde und Gras und zerriss sie ein wenig, so dass sie wie Lumpen aussahen. Zusätzlich gab er Selim och sein Gesichtstuch, das sie ihm um den Kopf wickelten, damit der nichts sah. Sobald sie fertig waren gab Selim sein Schwert seinem Freund, der es unter seinen Lumpen versteckte und nahm stattdessen den alten Sack mit den Farben und Pinseln. Sie gingen ein Stück ins Wasser und der Maler rief nach der Meerjungfrau. Diese tauchte vor ihnen auf und fragte was er wollte. Da sagte der Maler: „Es ist nun schon so viele Jahre her, dass ich Euch gemalt habe, und Ihr werdet von Jahr zu Jahr schöner. Das Bild wird Euch gar nicht mehr gerecht. Deshalb möchte ich Euch gern ein zweites Mal zeichnen.“
So in ihrer Eitelkeit geschmeichelt stimmte die Nixe zu. Dann wandte sie sich zu Selim. „Und wer bist du?“ Schnell antwortete wieder der Gesichtslose: „Das ist nur mein Gehilfe, der mir beim Tragen meiner Sache hilft, denn ich werde langsam alt.“
Als sie wissen wollte, warum er ein Tuch über dem Kopf trägt, meinte der Maler, dass Selim sich schäme, weil er so hässlich sei aufgrund der vielen Narben und Warzen im Gesicht. Er wollte die Nixe nicht mit seinem Anblick plagen. Endlich brachte sie die beiden in ihr Schloss, welches unzählige Meilen unter dem Meer lag.

Gleich nach ihrem Ankommen wurden die beiden Männer von ihr in einen Saal geführt, in dem sie sich sofort auf einem Thron aus Muscheln niederließ und verlangte, dass der Maler sofort beginnen sollte. Dieser machte sich an sein Werk und Selim setzte sich neben ihm auf den Boden, während er auf eine gute Möglichkeit sich fort zu schleichen wartete.
Es wurde still, bis der Maler die Meerjungfrau bat: "Bitte, gütige Herrin, darf mein Gehilfe sich ein wenig die Beine vertreten. Er ist noch sehr jung und ungeduldig und das lange Ausharren nicht gewohnt."
Schnell sich bedankend verließ Selim mit einer Verbeugung den Saal, als sie der Bitte zustimmte, und nahm das Tuch vom Kopf, damit er sich im Schloss umsehen und die Prinzessin finden konnte. Hastig schlich er durch die Gänge und Flur über Treppen durch Türme. Aber er fand keine Spur von der Prinzessin. Da er es nicht wagte allzu lange weg zu bleiben, legte er sich wieder sein Tuch um den Kopf und kehrte zurück in den Saal. Dort beendete der Maler gerade das Bild für den Tag mit der Begründung, dass er langsam älter und schneller müde wurde. Das Bild sollte jedoch so schön werden, dass er in seiner Erschöpfung keinen Fehler machen wollte.
Am nächsten Morgen malte der Gesichtlose weiter und wieder bat er die Nixe um eine Pause für seinen Gehilfen. Abermals suchte so der Prinz im ganzen Schloss nach der Königstochter und fand sie dennoch nicht. Allerdings entdeckte er eine verborgene Tür, die in die Kellergewölbe führte. Leider blieb Selim keine Zeit mehr und er kam gerade noch rechtzeitig wieder zu dem Maler, der in diesem Augenblick aufhören wollte.
Am dritten Tag erkundete Selim dann den Keller und fand in einem abgelegen Kerker schließlich die Prinzessin und ihren verwandelten Bruder, der an seiner Schwanzflosse durchlocht und an die Wand gekettet war. Trotz allem Rütteln und Ziehen an der Gittertür ließ sie sich nicht öffnen. Es gab auch kein Schloss, zu dem man einen passenden Schlüssel hätte finden können nur zwei große spitze Ohren hingen daran. Die Prinzessin erklärte ihm, dass die Tür sich nur durch den Gesang der Meerjungfrau öffnen ließ. Unterdessen war aber auch schon die Zeit vorangeschritten und Selim musste vorerst gehen. Er versprach schnellstmöglich eine Lösung zu suchen.

Drei Tage lang überlegte der Prinz und fand keine Möglichkeit der Prinzessin zu helfen. Am vierten Tag hatte diese einen Einfall. Rasch befahl sie ihm eine leere, gewundene Muschel aufzutreiben. Kurz lief Selim durch die Gänge und kam dann mit seiner Beute wieder.
"Ich verstehe nicht, wie uns eine Muschel helfen soll?", meinte er.
Die Prinzessin schmunzelte und fragte: "Hast du dir jemals am Strand eine dieser Muscheln ans Ohr gehalten?"
Der Prinz nickte und sie fragte weiter: "Und hast du auch etwas gehört?"
Ein weiteres Mal nickte der Prinz: "Ja. Das Rauschen des Meeres."
„Richtig. Weil die Muschel es eingefangen hat. Und du musst mit dieser Muschel den Gesang der Meerjungfrau einfangen. Dann bringst du sie hier hinunter und hält sie an die Ohren der Gittertür.“

Mit diesem Plan und der Muschel ging Selim in den Saal zu dem Gesichtslosen und flüsterte ihm ihr Vorhaben zu. Erleichtert nickte der, denn langsam wurde die Zeit knapp. Das Bild war bald fertig. Nur noch das Gesicht der Nixe fehlte. Kurz dachte der Maler nach, dann sprach er zu der Meerjungfrau: „Gütige Herrin, wenn Ihr erlaubt, ich denke, dass sie noch schöner auf dem Bild wären, wenn sie die Augen schließen und etwas singen würden.“ Darüber lächelte sie und tat ihm eitel wie sie war den Gefallen. Als ihr Gesang ertönte, schlich Selim leise näher heran und hielt ihr die Muschel entgegen. Nach einer Weile nahm er sie wieder weg und stahl sich, ohne dass die Nixe es bemerkte, aus dem Raum zum Kerker. Freudig wurde er von der Prinzessin erwartet. Aber trotz dem Gesang öffnete sich die Tür nicht. Enttäuscht warf Selim die Muschel weg und sie zerbrach in tausend Stücke. Die Prinzessin befahl ihm eine neue zu holen. Vielleicht war es nur der falsche Gesang.
Also machte sich der Prinz mit einer weiteren Muschel auf de Weg zur Nixe. „Liebe Nixe, ich finde Euer Lied so schön. Kennt Ihr noch mehr? Und würdet Ihr sie vorsingen?“, fragte er sie. Da wechselte sie die Melodie und Selim fing sie nochmals ein. Doch auch diese war nicht die richtige.
Ein drittes Mal holte er ein Lied und dies war endlich das richtige.
Die Tür sprach auf und die Prinzessin lief dankbar zu dem Prinzen. Eilig befreiten sie noch den Bruder der Königstochter und Selim brachte die beiden aus dem Schloss. Sie sollten davon schwimmen so schnell sie konnten. Er würde nur noch schnell seinen Freund, den gesichtslosen Maler holen und auch fliehen.

Indessen hatte die Nixe leider gemerkt, dass die beiden gefangenen Königskinder verschwunden waren. Wütend rauschte sie dicht gefolgt von Selims Freund in die große Halle, die dieser gerade durchquerte. Schnell schloss er die Augen und zog sich das Kopftuch vor das Gesicht.
„Du elender Mensch! Du hast sie befreit! Dafür wirst du büßen!“, schrie sie ihn an und wollte ihm den Stoff vom Gesicht reißen, da hatte der Maler das Schwert aus seinen Lumpen gezogen und hieb auf die Nixe ein. Mit einem Schlag tötete er sie. Der Prinz und er rannten zum Schlosstor und konnten gerade noch den Wachen und Monstern entkommen.
Am Strand trafen sie auf die beiden Geschwister und noch viele, junge und alte Männer tauchen aus dem Wasser auf, denn mit dem Tod der Meerjungfrau löste sich auch ihr Fluch auf.

Schließlich brachten die beiden vermissten Geschwister ihre Retter zu ihrem Vater. Der König und die Königin waren außer sich vor Freude. Als sie ihr Versprechen einlösen wollten, verzichteten Selim und der Gesichtslose auf das Gold und das halbe Königreich. Stattdessen fragte der Prinz, ob er und die Prinzessin heiraten dürften. Der König gab sein Einverständnis und die beiden lebten glücklich bis an ihr Lebensende.
Der gesichtslose Maler verließ sie um weiter durch die Lande zu ziehen, denn er hatte Gefallen daran gefunden, die Landschaften und Menschen, die er unterwegs kennen lernte, in Bildern festzuhalten. Und wenn er nicht gestorben ist, dann zieht er noch heute umher.

Ende

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