Titel: Urlaub und andere Grausamkeiten
Autor: Lapis
Teil: 01/10

Genre: Reale Welt
Rating: PG-12
Warnung: sap
Disclaimer: Alles mir!! Ätsch!! Finger weg!!
Feedback: immer her damit ^^
Inhalt: Wenn die Mutter mit dem Sohne... in den Urlaub fährt... und die Zeit danach...

"blablabla" = Gesprochenes
'rabarberrabarber' = Gedachtes
*wort* = Betonung


Teil 01 | Teil 02


"Ich bin wieder da!"
Türeknallend betrat ich die Wohnung.
Schnurstracks lief ich in mein Zimmer, entledigte mich unterwegs meines Rucksacks und meines Sweatshirts, das mir am Körper klebte.

"Mandy?"
Meine Mutter steckte ihren Kopf in mein Zimmer. Sie war mal wieder beim Frisör gewesen, bei ihrer Pagenfrisur lag ein Haar exakt neben dem anderen, alle Millimeter genau gleich lang geschnitten.

"Na, wieder Tratschen gewesen?", flachste ich.

"Wieso, sieht man, dass ich beim Frisör war?"

"Nicht nur, man riecht es."

"Du riechst aber auch komisch", behauptete meine Mutter, während ich im Schrank nach frischen Klamotten kramte.

"Nach Arbeitsschweiß", gab ich ziemlich gereizt zurück.
Mir war, als müsste ich gleich aus der Haut fahren. Ich fühlte sich wie auf einem Ameisenhaufen, am ganzen Körper juckte und kribbelte es.

"War's denn so anstrengend?", fragte Mutter mitfühlend und hob eine Hand, der ich ansah, dass sie mir mütterlich und fürsorglich übers Haar streichen wollte.

"Rühr mich bloß nicht an! Ich muss gleich unter die Dusche", sagte ich und meine Mutter ließ im Zeitlupentempo ihre Hand sinken.

Mir war schon klar, das dieses unangenehme Gefühl auch unter fließendem Wasser nicht verschwinden würde. Ich kannte das von früher, oft hatte ich mich deshalb als Kind wundgekratzt.

'Wasser! Eine unendliche Wasserfläche, in die ich ganz eintauchen kann, damit es endlich nachlässt!'

Meine Mutter folgte mir mit etwas Abstand ins Badezimmer.

In der Badewanne stand ein vollgehängter Wäscheständer, der weder unter einem genervten, noch morddrohenden Blick verschwand.

Sehnsüchtig dachte ich an Karstens elegantes Elternhaus, in dem es drei Bäder gab. Karsten und ich besuchen die gleiche Klasse seit der Grundschule und waren die besten Freunde. Wie gerne wäre ich jetzt bei ihm und in seinem Gästebad.

Meine Mutter räumte eilig den Wäscheständer hinaus während ich mich meiner Jeans entledigte. Ich stöhnte auf.

'Autsch! Meine Arme, meine Schulter! Verflucht, alles tut weh!'

"Ist es denn so schlimm?", fragte Mutter und drehte ohne abzuwarten den Wasserhahn der Badewanne auf.

"Schlimmer", sagte ich, "Aber deshalb musst du mich noch lange nicht wie ein Kleinkind behandeln!"

Ich hatte mir so um meinen zwölften Geburtstag herum geschworen, mich nie wieder betüteln zu lassen, auch wenn sich meine Mutter wohl nur schwer daran gewöhnen würde. Meistens funktionierte das auch ohne Probleme, jedenfalls solange mein Vater da war und die ganze Aufmerksamkeit meiner Mutter beanspruchte. Sie musste ihm dann den Bart rasieren, die Haare schneiden, mindestens einmal in der Woche mit Hilfe einer Spezialpinzette Kakteenstacheln aus den Händen ziehen und Pickel, an die er nicht herankam ausdrücken. Lauter widerliche, ekelerregende Aktivitäten.

Ich fragte mich oft, wie meine Mutter das nur aushielt.

Leider war mein Vater verreist, auf einer seiner unzähligen und ewig andauernden Exkursionen mit seinen Studenten. Diesmal war er auf Sizilien. Meine Mutter und ich mussten also mal wieder die Sommerferien alleine verbringen, deshalb hatte sie nun auch viel Zeit, mich zu verhätscheln.

Zum x-tausendsten Mal fragte ich mich, warum mein Vater seine dämlichen Exkursionen aber auch ausgerechnet in den Ferien machen musste, anstatt mit seiner Familie oder wenigstens mit seiner Frau zu verreisen.

Seufzend setzte ich mich in die inzwischen halb volle Wanne, ließ das heiße Wasser auf meinen schmerzenden Körper niederprasseln.

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass meine Mutter das Badezimmer verlassen hatte, erst als sie mir eine dampfende Tasse Tee unter die Nase hielt bemerkte ich sie.

Dampf erfüllte das kleine Badezimmer und ich konnte die Frau, die sich nun an den Türrahmen lehnte, kaum noch erkennen.

"Peter hat angerufen", erzählte sie.

"Und?"

"Er hat gesagt, er würde bald vorbei kommen."

"Schön für dich."

Ich schloss die Augen und ließ mich unter dass heiße Wasser gleiten, meine Mutter zog die Tür zwischen uns zu.

Peter war mein Bruder, zur Zeit ist er beim Bund.
Unsere Mutter geriet immer völlig aus dem Häuschen, wenn er mal wieder einen seiner - zum Glück - kurzen Besuche ankündigte. Sie verhielt sich dann immer so, als hätte sie ihren armen Sohn jahrelang nicht mehr gesehen und als käme er direkt aus einem Krieg zurück. Tatsache war jedoch, dass er fast jedes Wochenende nach Hause kam und dann ständig das Badezimmer mit einem Berg schmutziger Wäsche blockierte. Während unsere Mutter sich darum kümmerte verschwand er zu seiner Freundin und lässt sich immer nur zu den Mahlzeiten blicken - oder auch nicht.

Ich finde, dass Peter Mutter ausnützt und schon fast ein solcher Egoist ist, wie unser Vater. Aber Mutter schein davon nicht mitzubekommen. Echt, sie lässt sich total von den beiden unterdrücken.

Unter der Dusche oder in der Badewanne kommen mir immer solche Gedanken. Manchmal denke ich, in so einer Situation könnte ich ganze Revolutionen planen. Aber bei meiner Machofamilie hatte ich schon längst die Hoffnung aufgegeben, dass sich da noch irgend etwas ändern würde.

Wenigstens bin ich nicht so wie die anderen männlichen Mitglieder!

~~ooO@Ooo~~

Von Kopf bis Fuß mit Babyöl eingerieben und in einen weichen, kuscheligen Bademantel gehüllt saß ich eine halbe Stunde später mit feuchten Haaren im Wohnzimmer.

"Tee und Gebäck stehen in der Küche, Lasagne ist auch noch im Backofen, falls du möchtest", sagte meine Mutter, während sie ihre Noten in der Tasche verstaute.

"Und föhn dir die Haare, sonst wirst du noch krank!"

Ich brummelte nur etwas vor mich hin während ich beobachtete, wie sie ihren berühmten Blick aufsetzte, den sie immer bekam wenn sie in Richtung Chorprobe verschwindet. Unschlüssig blieb sie jedoch noch an der Schwelle stehen und drehte sich zu mir herum. Das ist ja mal was ganz neues.

"Ist noch was?", fragte ich.

"Ja, eigentlich... wir sollten mal miteinander reden."

'Häh, was is'n jetzt los?'
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und brachte es auch nicht fertig, zu fragen, über *was* wir denn reden sollte, also zuckte ich nur die Schultern.

"Dann bis später", sagte sie noch, ehe sie entgültig verschwand.

Ich stapfte in die Küche, schnappte mir das Gebäck und schnupperte am Tee. 'Hmm, Vanilletee!'

Mit diesen Köstlichkeiten beladen ging ich zurück ins Wohnzimmer, schaltete mit dem großen Zeh die Stereoanlage an und hätte beinahe alles fallen lassen, als in voller Lautstärke Modern Talking ertönte.

Meine Mutter hatte heute also die Wohnung geputzt.

Viel zu faul jetzt nach einer 'richtigen' CD zu suchen schaltete ich diese furchterregende Musik wieder ab und kuschelte mich auf das Sofa.

Während ich den - noch viel zu heißen - Vanilletee trank und ab und zu nach einem Keks griff dachte ich über das Verhältnis meiner Eltern nach.

Konnte man dazu überhaupt Verhältnis sagen?

Mein Blick fiel auf das hell erleuchtete Aquarium, das fast die ganze Fensterseite des Wohnzimmers einnahm und beinahe gleichzeitig dachte ich an die nahezu hundert verschiedenen Kakteenarten im Gewächshaus.

'Mit seinen dämlichen Kakteen und Fischen verbindet Paps wohl viel mehr als mit Mama! Wenn er so was wie Leidenschaft besitzt, dann entwickelt er sie wohl nur für diese ekelhaften, glubschäugigen Monster und die stachligen, gemeingefährlichen Kakteen!'

Mein Vater verbrachte mit der Pflege dieser Kreaturen und Pflanzen die meiste Zeit zu Hause, oder wertete an seinem Mikroskop und eigens dafür angeschafften Computer Meeresbodenproben aus.

'Ob meine Eltern wohl überhaupt manchmal miteinander Sex hatten?'

Nein, der Gedanke war so abwegig, dass ich ihn gleich wieder verwarf. Ich kann mich nicht mal daran erinnern, sie jemals in einer Umarmung oder bei einem Kuss beobachtet zu haben. Aber ich hatte auch ehrlich gesagt keine gesteigerte Lust darauf.

'Ob sie wohl je so was, wie ein Liebespaar waren?'
Mussten sie wohl, sonst würde es mich und meinen dämlichen Bruder ja nicht geben. Aber irgendwie war der Gedanke seltsam, so unwirklich.

Ich starrte in die Unterwasserlandschaft aus Korallen, Meeresfarnen und Steinen. Ab und zu schwamm einer dieser ekligen Fische in mein Blickfeld.

Verliebtsein fand ich sowieso eher albern. Schließlich war Selbstfindung doch das Wesentliche, oder?

Nun hatte ich entgültig genug von meinen destruktiven Gedanken. Sie zogen mich nur herunter und änderten doch nichts.

Ich ließ alles stehen und liegen und ging in mein Zimmer, zog mir meinen weichen Pyjama an und kuschelte mich in mein Bett.

Es war zwar erst halb zehn, aber schließlich hatte ich morgen wieder einen harten Tag vor mir.

Von wegen Ferien!

~~ooO@Ooo~~

Der Tag lief wie die vorherigen genau so qualvoll. Meine Arme fühlten sich an, als hätte ich in einem Ameisenhaufen gewühlt.

Ich fühlt die mitleidigen Blicke der anderen auf mir, die waren das ja schon gewohnt!

'Nur noch drei Wochen, nur noch drei Wochen, nur noch drei Wochen...'

Gedanklich versuchte ich mich anzuspornen, vor allem als ich sah, wie Manuela neben mir die Kartons ohne größere Anstrengungen in sekundenschnelle packte. Es konnte schließlich nicht angehen, dass ein *Mädchen* damit keine Probleme hatte und ich als Junge kläglich versagte. Auch nicht, wenn das Mädchen Oberarmmuskeln wie Arnold Schwarzenegger hatte!

Was tut man nicht alles für seinen Traum.

~~ooO@Ooo~~

Die Mittagspause war für meinen Geschmack viel zu kurz und so hatte ich das Gefühl, gar keine gehabt zu haben. Zu allem Unglück fiel ich auch noch über so einen verdammten Karton und prellte mir den Arm.

Mir war zum Heulen zumute und ich spielte mit dem Gedanken, alles stehen und liegen zu lassen und mit diesem verfluchten Ferienjob Schluss zu machen.

Dann dauerte es halt länger, bis ich mir meine Japanreise leisten konnte, na und?

Gott sei Dank war der Bandleiter ein echt netter Kerl, denn als er merkte, dass ich für diesen Job absolut ungeeignet war schickte er mich zur Personalabteilung. Dort wurde ich dann auch gleich weiter geschickt in die Postabteilung zu Herrn Frick.

Der zeigte wenig Begeisterung über mein Erscheinen und der Tatsache, dass ich ihm helfen sollte, aber das war mir so was von egal. Hauptsache keinen Job am Band!

Herr Frick hatte Hasenzähne, fettige Haare und abgenagte Fingernägel. Er trug einen dämlichen Arbeitskittel aus steifen, blauen Drillich. Die Sympathien, die wir füreinander hatten waren auf beiden Seiten gleichmäßig verteilt und bewegte sich so im Nullerbereich.

"Und wie lange wollen Sie bleiben?", fragte er mürrisch, als ich mich vorgestellt und mein Anliegen vorgebracht hatte.

"Drei Wochen", antwortete ich wahrheitsgemäß.

"Dann brauchen Sie gar nicht erst anfangen, Fräulein. Das kapieren Sie in der Zeit eh nicht." Er lachte höhnisch und ich sah es nicht ein, ihn über seinen Fehler aufzuklären.

Es war - zu meinem Leidwesen - nicht das erste Mal, dass man mich für ein Mädchen hielt. Wer gab seinem Sohn auch den beschissenen Namen *Mandy*?

Leider klang mein Name nicht nur wie der eines Mädchens, ich sah auch noch so aus. Hatte einfach zu viel von meiner Mutter vererbt bekommen: die schmale Gestalt, die zierlichen Gliedmaßen, die helle Haut und diesem sanften Gesichtsausdruck.

"Wie meinen Sie das?", fragte ich stattdessen.

"Das System meine ich. Wie die Post sortiert wird."

"Und was ist daran so schwer zu verstehen?"

Er starrte mich aus grauen Äuglein an, als hätte ich die ganze Welt in frage gestellt.

"Ich mache das hier nun seit mehr als zwanzig Jahren, Fräulein, da werden Sie mir doch sicher glauben, wenn ich sage, dass so ein junges Ding wie Sie das niemals in einer Woche lernen kann."

'Wozu mich mit dem alten Ekel anlegen? Ganz ruhig bleiben!'

Ich erwiderte also nichts, sah ihm nur zu wie er die Post sortierte. Soweit ich es mitbekam waren die einzelnen Abteilungen mit schlichten, arabischen Zahlen auf Aktendeckeln vermerkt.

Als er mit dem sortieren fertig war, schob er die Postwanne zu mir herüber, sah mich mit in die Seiten gestemmten Hüften an und sagte: "Na dann teilen Sie das mal aus."

Echt, beinahe hätte es mich aus den Latschen gehauen, der Korb war mindestens genau so schwer wie eine dieser verdammten Kisten, die ich sonst geschleppt hatte.
Herr Frick lachte.

"Na, was habe ich Ihnen gesagt?"

Davon war zwar nie die Rede gewesen, aber das schien ihn nicht zu stören. Stöhnend ließ ich den Korb wieder fallen und fragte: "Gibt es dafür denn keinen Wagen oder so?"

"Wagen, Wagen", brummelte er," Ich trage die Post nun schon seid zwei Jahrzehnten in die Abteilungen - ohne Wagen."

Dann nahm er die Hälfte der Post wieder aus dem Korb und meinte: "Machen Sie eben die Abteilungen eins bis sechs und ich mache den Rest."

Mann, freuten die sich, wenn ich auftauchte. Jeder dieser Bürofritzen versuchte witzig und/oder geistreich zu sein. Und was tat ich?

Ich lachte wie ein Honigkuchenpferd, redete den gleichen Quatsch zurück und sammelte nebenbei die Poststücke ein, die zur Weiterbearbeitung in andere Abteilungen mussten.

Als ich von meinem ersten Rundgang zurückkam saß Herr Frick in der Poststube und knabberte an einer Stulle.

"Und, wie war's?", fragte er mich - erwartungsvoll?

"Anstrengend", sagte ich.

"Haben Sie auch nichts verkehrt gemacht?"

Ich fragte ihn ernsthaft, was man hätte verkehrt machen können. Er schien mir deswegen ein wenig frustriert, aber das war mir total egal. Alles, was ich jetzt noch wollte, war nach Hause, ein warmes Bad und dann ins Bett.

~~ooO@Ooo~~

Gerade als ich die Tür aufschloss läutete das Telefon. Mama schien nicht da zu sein, also nahm ich gezwungenermaßen ab.

"Hier spricht Lucas Berger", meldete sich jemand.

"Ja, wen wollen Sie sprechen?"

"Ich bin ein Freund Ihres Sohnes, gnädige Frau."

Arg, wenn ich nicht wäre wer ich bin, hätte ich das wohl lustig gefunden, so regte es mich aber nur auf. Innerlich stand ich kurz vor der Explosion, ich konnte nicht glauben, dass ich mich selbst am Telefon wie ein Mädchen anhörte.

"Ich bin nicht meine Mutter, ich bin nur der *Sohn*", sagte ich frostig.

"Oh."

Stille.

"Dann bist du's, Mandy."

Auf einmal schien es Klick zu machen und mein Gedächtnis meldete sich wieder. Natürlich, Lucas, mit dem war Peter doch in einer Klasse und spielt auch heut noch hin und wieder Basketball mit ihm. Wenn er sich von seiner Freundin losreißen konnte.

"Hab' deinen Familiennamen noch nie gehört", sagte ich. Es kam mir irgendwie vor wie eine Entschuldigung, aber was besseres fiel mir nicht ein.

"Tja, woher solltest du ihn auch kennen, wir haben uns ja eh so gut wie nie gesehen und richtig unterhalten schon gleich gar nicht."

Eigentlich war mir das ja so ziemlich egal, aber seine Stimme hörte sich echt sympathisch an, irgendwie weich und wie Musik. Mir fiel ein, was Peter mal über ihn gesagt hatte, nämlich dass er stockschwul sei. 'Vielleicht deshalb die sanfte Stimme?'

"Du wolltest sicherlich Peter sprechen?", fragte ich.

"Eigentlich ja. Es war kürzlich davon die Rede, dass er nach Berlin fährt."

'Eigentlich?' "Davon weiß ich nichts, aber er kommt Freitag zurück. Sonst noch was?"

Mir war nicht danach, die Angelegenheiten meines ach so tollen Bruders zu regeln, ich wollte viel lieber baden, essen und dann schlafen.

"Bleib noch dran", bat Lucas.

'Hä? Wieso?' "Wieso?"

"Na ja, ich versuche mir gerade vorzustellen..."

Pause.

"Was?"

"Wie du jetzt wohl aussiehst."

Bitte? Was sollte denn das jetzt?

Auf dem Wohnzimmertisch entdeckte ich eine Schüssel Nudelsalat, eine Coke und Weintrauben, die mich irgendwie anzubetteln schienen, zu ihnen zu kommen und aufzuessen.

"Du, ich hab echt außerordentlich wenig Zeit", log ich und versuchte dabei, meiner Stimme einen ernsthaften Klang zu geben.

Ich versagte wohl kläglich, denn es hörte sich spöttisch an, als Lucas sagte: "Wenig Zeit? Du sitzt sicher mit einer Cola und einer Familienpackung Salzletten vor dem Fernseher."

Hahaha. Wie witzig.
"Zufällig nicht und jetzt muss ich leider auflegen", sagte ich frostig.

"Früher tatest du das jedenfalls", bemerkte er noch schnell. "Ich meine vor dem Fernseher hocken und so weiter - bist du immer noch so dick?"

Jetzt reichte es mir! Was bildete dieser Kerl sich eigentlich ein? "Ja, wenn du's schon wissen willst. Und außerdem habe ich Akne, Körpergeruch und Depressionen!" Das alles war eine faustdicke Lüge, aber was besseres fiel mir in der Eile nicht ein.

Lucas lachte leise. "Aha, das dachte ich mir schon. Du Ärmster, könntest du Peter ausrichten, dass ich angerufen habe? Oder nein, sag ihm lieber, dass ich am Samstag mal vorbeischaue!"

"Okay, sonst noch was?"

"Sonst nichts", sagte dieses ausgemachte und vollendete Ekel, "und noch viel Spaß - beim Fernsehen."

Ohne noch etwas zu sagen legte ich den Hörer auf und ging in das Wohnzimmer. Neben der Schüssel lag eine Mitteilung meiner Mutter: "Bin bei der Ortschaftsratsitzung, du weißt schon. Komme so gegen halb neun. Würstchen sind im Backofen. Kuss, Mama"

Außerdem lag noch ein Stoß bunter Reiseprospekte auf dem Tisch. 'Nanu, wofür denn das?'

Ich wollte mir gerade die Würstchen holen, als ich merkte, dass mir irgendwie der Appetit vergangen war.

Ob das an dem Anblick des verhassten Aquariums lag, das fröhlich vor sich hin blubberte? Oder an dem beschissenen Telefongespräch mit diesem Möchtegern-Macho?

Ich setzt mich mit dem Rücken zu den Fischen, damit mich wenigstens nicht ihr sinnloses hin und her schwimmen nich ablenkte und widmete mich ganz den Prospekten.

Was hatte meine Mutter wohl dazu bewogen all diese Prospekte mit nach hause zu schleppen? Spielte sie etwa mit dem Gedanken, in Urlaub zu fahren?

Undenkbar.

In Sachen Urlaub betrieben meine Eltern wahrlich keinen Luxus. Jedenfalls nicht, wenn ich das mit den anderen vergleiche: Jennifer und Mark beispielsweise waren letztes Jahr mit ihren Alten in Amerika. Eine Woche New York und dann mit einem Wohnmobil quer durch nach L.A.! Und wir? Mit den Rädern durch das Altmühltal. Und die ganze Zeit regnete es. Wenn ich nur daran denke, wie wir versuchten die Zeltkrampen in den Morast zu schlagen, wird mir heut noch schlecht!

Das Telefon klingelte schon wieder.

Hoffentlich war es nicht schon wieder Lucas, dem noch etwas dämliches eingefallen war.

Gleich darauf erschrak ich, weil die Stimme meines Vaters so laut dröhnte, als stünde er direkt neben mir im Wohnzimmer.

"Mandy? Kannst du Mutter holen?"

"Sie ist nicht da."

"Mama ist nicht da?"

Pause. Verwunderung und erstaunen von Sizilien bis nach Stuttgart.

"Wann kommt sie denn wieder zurück."

"Keine Ahnung." Kein Wort von der Ortschaftsratssitzung. Ein bisschen Sado musste schließlich sein und würde meinem Vater auch nicht schaden. Da ich sowieso fand, dass Mama sich viel zu viel von ihm gefallen ließ.

"Richte ihr bitte aus, dass wir einen Maschinenschaden haben und immer noch im Hafen liegen. Dadurch verzögert sich logischerweise nun das Auslaufen um ein paar Tage."

"Aha."

"Bist du noch dran, Mandy? Ich kann dich kaum verstehen."

"Ich sagte nur 'aha'."

"Ich werde Montag abend wieder anrufen. Sag ihr bi-..."

Knack. Knack. Aus. Die Leitung wurde unterbrochen. Ich schwöre hoch und heilig das ich nicht *absichtlich* auf die Gabel gedrückt habe.

Montagabends hatte meine Mutter schon seit ich denken kann Chor, alle Welt wusste dass, nur mein lieber Herr Papa schien davon nichts mitbekommen zu haben.

Ich machte es mir auf der Couch bequem und zappte durch die Fernsehprogramme. Überall nur Quatsch, politische Eierköpfe die sinnlos diskutierten. Schließlich blieb ich an einem Programm hängen, an dem die Ansagering gerade "Let's talk about sex!" verkündete. Wie es sich herausstellte ging es um Verhütungsmittel und Ähnliches. Ein Mädchen, das bestimmt jünger war als ich, laberte eine viertel Stunde über ein Diaphragma, das die Liebeslust nicht beeinträchtigen würde, viel besser als die Pille sei und das wunderbarste Ding zu sein schien, das dieses Mädchen kannte.

Kopfschüttelnd schaltete ich ab.

Wie konnte man über so ein Thema nur so offen seine Meinung verbreiten?

Mir war unsagbar langweilig, also ging ich ins Badezimmer und ließ heißes Wasser in die Wanne. Ein Blick in den Spiegel war ernüchternd.

Ich sah richtig bleich aus, total fertig und abgebrannt.

'Das kommt alles nur von dieser dämlichen Schufterei!'

Selbst meine Igelfrisur schien heute total trostlos. Vielleicht fehlte aber auch nur ein neuer Akzent – den Hinterkopf ausrasieren oder einen Irokesenschnitt. Oder einfach nur mal färben.

Irgendwie schlich sich das Gefühl von Verlassenheit bei mir ein und wehmütig dachte ich daran, dass Karsten und Mark jetzt bestimmt jede Menge Spaß und Action erlebten.

Und wahrscheinlich gabelten sie gerade jede menge scharfe Mädels auf.

Nicht, dass mich das interessiert hätte, aber es war immer amüsant, den beiden beim baggern zuzusehen. Sie waren die absolutesten Mädchenschwarme und es gab kaum eine, die sie nicht rumkriegen würden.

Was man von mir nicht behaupten konnte. Mein Aussehen war nur durchschnittlich, viel zu mädchenhaft und ich galt als absoluter Softie. Ich war noch nie verliebt, hatte noch nie eine Freundin und das hat mir noch nie etwas ausgemacht.

Ich wollte niemanden.

Wenn ich mir so die Mädels aus meiner Klasse ansah, verging es mir wieder und ich konnte wirklich verstehen, warum manchen Jungs schwul waren.

Da war zum Beispiel diese Zicke namens Jasmin, deren Röcke nie kurz genug sein konnten und somit jede Menge dickes Bein freigab. Oder Sandra, die sich ständig darum riss, Klassen- oder Schülersprecherin zu werden, die war eine richtige Streberin. Oder Cornelia, auch Conny genannt, die ständig damit beschäftigt ist, ihre Nägel zu reinigen und zu feilen. Und die meist Zeit leuchteten widerliche rote Pickel an ihrem Hals und ihren Schultern. Ich weiß das genau, weil sie genau vor mir sitzt und ich die ganzen deprimierenden Einzelheiten betrachten kann.

Und trotzdem besaß ich noch Überlebenswillen, denn mein Blick fiel auf die nun mit heißem Wasser und Schaum gefüllte Badewanne.

Ich versenkte meinen Körper in Schaumbergen, lehnte mich zurück und schloss genießerisch die Augen.

~~ooO@Ooo~~

Ich war gerade dabei mich mit Babyöl einzureiben, als ich hörte, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.

Gleich darauf klopfte meine Mutter an die Türe ehe sie diese öffnete.

Ich hatte keine Probleme damit, unbekleidet vor meiner Mutter zu stehen. Schließlich war sie ja meine Mutter und nicht irgendeine Frau.

Sie sah aus, als wolle sie gleich mit etwas wichtigem loslegen.

"Papa hat angerufen", sagte ich noch bevor sie anfangen konnte.

"Schade, dass ich nicht da war."

"Er hat nur gesagt, dass es wegen eines Schadens länger dauert, da sie nicht auslaufen können."

"Ach so", sagte sie und klang enttäuscht.

"Tut mir leid Mama, aber er ruft Montag wieder an."

"Montag?" Unschlüssig stand sie an der Türe. "Weißt du, ich überlege, ob ich nicht einfach für ein paar Tage verreise." Sie sah mich fragend an.

"Mach das", riet ich ihr, "Sicher geht's dir dann wieder besser. Ich finde es ausgezeichnet, dass du dir auch mal was gutes gönnst!"

"Aber was wird Papa dazu sagen?"

"Pff. Der wird natürlich dagegen sein. Aber er fragt dich schließlich auch nicht, wenn er mit seinen Studenten wochenlang unterwegs ist."

"Und Studentinnen...", murmelte Mama gedankenverloren.

Irgendwie bestätigte mir das mein Gefühl, dass es in der Ehe meiner Eltern schon länger kriselte.

"Wo willst du denn hin?"

"Ach, weißt du, ich hätte Lust, mal wider das Meer zu sehen. Es ist schon ewig her, dass ich über einen Strand gelaufen bin und den Sonnenuntergang beobachten habe."

"Dann fahr ich mit!"

Ich verschwendete nicht einen Gedanken an meinen Ferienjob oder irgend etwas anderes. Ich wollte auch mal wieder ans Meer und überhaupt, mir würde ein richtiger Urlaub auch mal gut tun.

"Du würdest wirklich mit wollen?", fragte Mama ungläubig.

"Himmel, ja! Ich brauch das!"

"Aber dein Ferienjob?"

"Pah, ich geh da jetzt noch eine Woche hin und dann sag ich denen halt was von einem Trauerfall in der Familie und dass ich dringend zu einer Beerdigung fahren müsste. Oder so was ähnliches halt."

"Und was machen wir mit den Fischen?"

"Peter hat doch Urlaub. Also kann er statt die ganze Zeit bei Susi zu hocken zur Abwechslung mal bei uns im Wohnzimmer sitzen und auf die dämlichen Viecher achten."

"Ob sie das machen würden? Vielleicht finden wir in der Eile nichts passendes? Und natürlich muss ich vorher noch mit Papa reden."

"Hey, ich dachte, ihr Frauen hätten vor Jahren mal um Gleichberechtigung und so was gekämpft", frotzelte ich.

"Natürlich haben wir das."

"Na, dann kann es Papa ja egal sein, ob wir fahren oder nicht. Du muss das jetzt endlich mal durchsetzen!"

~~ooO@Ooo~~

Die nächsten Tage verliefen richtig angenehm.

Der Ferienjob war um einiges besser geworden, seit ich *nur* die Post austeilen und einsammeln musste - ich hab die Leute dort immer noch nicht darüber aufgeklärt, dass ich ein Junge war und somit hatte ich ein paar von den jungen Azubis am Hals, die mich ständig blöd von der Seite anmachten. Ich stellte mir immer die dummen Gesichter vor, wenn ich ihnen bevor ich gehe offenbaren würde, mit *wem* sie da die ganze Zeit - einseitig, wohlgemerkt - geflirtet hatten.

Als ich Freitag nach Hause kam stolperte ich beinahe über einen Berg Schmutzwäsche im Flur.

Peter war also angekommen.

Er ist nicht unbedingt das, was man als gutaussehend bezeichnen würde. Oder doch?

Als Bruder habe ich kein besonderes Gefühl dafür. Ältere Damen, einschließlich Mama, liebten ihn jedenfalls.

Er ist sehr groß, mindestens 1,95 Meter. Sein Gesicht ist nicht perfekt, er hat viel zu dicke Lippen, die ihm den Ausdruck eines kleinen Jungen verliehen. Vielleicht ist es ja sein Lächeln. Er lächelt ständig. Oder die Augen. Blau sind sie, allerdings nicht so tief und lebendig wie meine, eher ein wenig verwaschen. Seine kurzen, blonden Haare sind exakt gleich lang. Irgendwie wird er unserem Vater immer ähnlicher.

Ich verschwand in meinem Zimmer und zog mich um. Wenn man nämlich den ganzen Tag mit dieser verdammtem Post durch die gegen rennt ist man abends wie ein Langstreckenläufer durchgeschwitzt.

Durch die geöffnete Zimmertüre konnte ich das Gespräch zwischen Peter und Mama hören.

Schließlich rief mich Mama, ob ich denn nicht auch ein Stück Käsekuchen haben möchte.

Ich stolperte also über diesen Wäscheberg in Richtung Küche.

Peter saß am Tisch, ein geöffnetes Bier und Kuchen vor der Nase - eine ekelhafte Kombination.

"Oje, du hast dich wohl prima angepasst - Bier aus der Falsche", begrüßte ich ihn. Mama schob mir ein Stück Käsekuchen zu.

"Du sagst es, Brüderchen. Ich komme gut klar. Ich liebe unser Vaterland, ich liebe unseren Verteidigungsminister und ich liebe das Natobündnis. Aber das Neueste wisst ihr noch nicht!"

Mama betrachtete ihn, als wollte sie ihn aus lauter Liebe auffressen, ich zog nur skeptisch die Nase kraus.

"Ich habe mich für ein paar Jahre verpflichtet."

"Was?" Mamas Augen wurden so groß wie Untertassen.

"Als was?", wollte ich wissen.

"Als Mediziner. Ich habe mich für die Laufbahn eines Sanitätsoffiziers entschieden, das ist eine klare Sache. Keine Probleme mit dem Studienplatz. Der Bund zahlt die Ausbildung, danach werde ich Stabsarzt, später sieht man weiter."

Ich war kurz vor dem Ausrasten. "Du als Arzt?", schrie ich. "Wo du doch kein Blut sehen kannst und keine Scheiße..."

"Mandy, ich bitte dich!", mischte Mama sich ein.

"Ist doch wahr. Vielleicht erinnerst du dich noch: als wir uns über Wehrdienstverweigerung, Altenarbeit und Katastrophenschutz unterhielten."

"Man entwickelt sich eben weiter.", erklärte Peter und Mama sah in an, als würde sie ihm glauben.

"Da wird Susi sich aber freuen - und Papa erst. Mein Bruder bekommt ein Stipendium von der Bundeswehr. Also nee!"

"Warum nicht?", sagte Peter und widmete sich nebenher einem weiteren Kuchenstück. "Schließlich ist es egal, was man macht und wo man arbeitet. Drinnen oder draußen. Am Menschen oder am Computer."

"Medizin zu studieren ist doch keine schlechte Idee.", unterstützte Mama Peter.

"Mama, nicht für jemanden, der kein Blut sehen kann und Menschen nicht anfassen mag!"

"Hab ich nie gesagt!"

"Doch, hast du."

"Ist doch auch egal. Jedenfalls hab ich einen festen Arbeitsplatz und das ist immerhin viel wert."

Ich bezweifelte, dass Peters Entscheidung entgültig war. Vor zwei Jahren wollte er unbedingt Sportlehrer werden, letztes Jahr hat er von der Absicht geträumt, in den Entwicklungsdienst irgendwo in Afrika zu gehen und jetzt das.

Peter betrachtete mich wissend mit seinen verwaschenen blauen Augen. 'Wie schön für uns, dass wenigstens *er* sooo schlau ist!'

"Ich hab noch was zu erledigen. Wenn ihr nichts dagegen habt, nehm ich die Teekanne mit in mein Zimmer.", murmelte ich.

Als ich an der Türschwelle stand läutete das Telefon und Peter hastete an mir vorbei in den Flur. Er brachte sogar das Kunststück fertig, nicht über seine eigene Schmutzwäsche zu stolpern. Er war noch keine zehn Minuten zu Hause und schon rief *seine* Susi an. Die beiden waren schon ewig zusammen und wahrscheinlich war ich der Einzige in unserer Familie, der Peters Freundin absolut grässlich fand – eine Spießerin, immer anständig angezogen in Spießerklamotten, mit blonder Pagenfrisur.

"Denk dran deiner Liebsten zu sagen, dass sie einen Teil des Urlaubs an Papas Fische abgeben muss.", erinnerte ich Peter.

Der drehte sich prompt zu mir um und zischte giftig: "Darüber müssen wir uns noch unterhalten.

~~ooO@Ooo~~

Es war Samstag Nachmittag.

Genießerisch lag ich auf der Couch und trank meinen Vanilletee. Herrlich, einfach mal nichts zu machen!

Meine Mutter kam unüberhörbar vom Einkaufen zurück, stöhnend ließ sie die vielen Tüten auf den Küchentisch sinken. Neugierig kam ich rüber, aber als ich die Menge betrachtete fiel es mir schlagartig ein: Ausverkäufe!

Ich wollte schon wieder den Rückzug antreten, als Mama mich entdeckte und mich freudig anlachte. Gequält lächelte ich zurück.

Verdammt, jetzt musste ich mir die ganzen Einkäufe anschauen.

Als erstes zog sie Frotteebetttücher hervor. Mitten im Sommer! Die Vorstellung, wie die sich jetzt wohl auf der Haut anfühlen würden war absolut widerlich.

Badelatschen in grässlichem Pink.

Eine ekelhaft geblümte Textile. Mir schwante übles.

"Was ist das?", fragte ich angewidert.

"Bermudas - für dich. Ich dach-..."

"Nein!", unterbrach ich sie. "Mama, wie oft soll ich dir es denn noch sagen, dass ich so was nicht anziehe. Blümchenkram ist höchstens was für Mädchen und Weicheier. Ich will nichts mit Streifen, Blümchen, Karos und sonstigen Mustern. Einfach einfarbig!"

"Na, macht nichts, dann zieh *ich* sie eben an. Gut, dass wir die gleiche Größe haben."

Das muss man sich mal vorstellen. Ich konnte ohne Probleme die Klamotten meiner Mama anziehen und umgekehrt. Welcher 17jährige Junge konnte das sonst noch behaupten?

Heute Morgen hatten wir bereits unseren Urlaub gebucht. Nicht weit vom Mittelmeer entfernt in Italien. Natürlich war so gut wie alles ausgebucht, aber ein Reisender hatte von seinem Rücktrittsrecht gebrauch gemacht und so kamen Mama und ich nun in Genuss dieses Urlaubs. Und Mama meinte, jetzt noch alles mögliche dafür einkaufen zu müssen.

Papa wusste noch nichts davon, er hatte sich noch nicht gemeldet und wenn er anrief war es dann sowieso zu spät.

Und Peter? Ich glaube, wenn es nach ihm gehen würde, würde er Papas heißgeliebtes Tropenaquarium im 'Sperrmüll'[1] anbieten. Aber Peter ist gottlob ein wohlerzogener Sohn also wird er nun wahrscheinlich eine Woche lang knutschend mit Susi auf unserer Wohnzimmercouch sitzen.

"Glaubst du, dass ich so was noch tragen kann?", fragte Mama in meine Gedanken hinein und hielt sich ein Bikinioberteil vor den Busen, auch so ein grässliches Ding in Blümchendesign in Rosa und Lila. Die dazugehörige Hose hatte Beinausschnitte bis unter die Achselhöhlen.

"Das ist doch nicht dein Ernst?", fragte ich, als es draußen klingelte.

Bevor meine Mutter sich rühren konnte ging ich zur Tür – nicht, dass es ihr noch in den Sinn kam, mit vorgehaltenem Büstenhalter den Briefträger zu empfangen.

Es war leider nicht der Briefträger, sonder Lucas, bei dessen Anblick mir siedend heiß einfiel, was ich Peter hätte ausrichten sollen... Ich hatte es vergessen.

Er betrachtete mich von oben bis unten, schien irgendwie überrascht.

"Hey - Mandy?"

"Ja, immer noch. Tag Lucas. Peter ist nicht da."

Lucas sah nicht so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er sah nett aus. Nee, Quatsch, das traf die Wirklichkeit nicht im mindesten. Er sah überdurchschnittlich gut aus. Enge Jeans, ein Sporthemd, das breite Schultern bedeckte und eine etwas aufgeschrammte Lederjacke, die er lässig über einer Schulter trug. Er sah irgendwie aus wie ein Typ auf einem Werbeplakat für Girokonten.

Mich traf ein Blitzschlag oder etwas in der Richtung.

Und ich musste ziemlich erschrocken ausgesehen haben.

"Ist was passiert?", fragte er mich.

"Nein, ich bin nur überrascht", sagte ich und bemühte mich, meiner plötzlich kieksenden Stimme einen normalen Klang zu geben. "Ich hatte dich nur ganz anders in Erinnerung."

"Ich dich auch", antwortete er und ließ seinen Blick mit übertriebener Gründlichkeit erneut über mich wandern. "Als wir uns das letzt Mal gesehen haben, hattest du eine rote Schniefnase, in die du dir dauern irgendwelche Nasentropfen eingefüllt hast."

Über diese Darstellung musste ich lachen.

"Daran kann ich mich gar nicht erinnern."

"Doch, doch. Und du warst ganz hibbelig damals, vor zwei Jahren."

"So, war ich das?"

"Und wie. Du bist in Panik geraten, wenn man dich nur ganz kurz angeschaut hat. Du weißt doch noch, auf der Party von Tobias! Hast dich aber ganz schön verändert, wie ich sehe."

Noch einmal betrachtete er mich intensiv und pfiff dann Anerkennend durch die Zähne.

"Schon gut, schon gut! Der Mensch ist auf Veränderungen angelegt", sagte ich möglichst lässig. Ich konnte spüren, wie sich eine leichte Röte in meine Wangen schlich.

Er lachte auf eine sympathisch Art und zwinkerte mir zu. Er hatte lange dichte Wimpern, die unwahrscheinlich geschwungen waren.

"Und wie geht's dir so? Was macht dein Liebesleben?"

"Alles bestens, danke der Nachfrage - und deines?"

Jetzt waren wir beide irgendwie nicht mehr ernst zu nehmen. Komplett durchgeknallt. Wir quatschten einfach so, was uns gerade einfiel. Eigentlich verabscheute ich diese Art der Unterhaltung, man wusste im Grunde nie, woran man war.

"Willst du's wirklich wissen?", fragte Lucas plötzlich ernst.

"Quark, war doch nur so dahergequatscht!"

"Ich verrate es dir trotzdem", sagte er mit einer Stimme, die mir bei unserem Telefongespräch schon sympathisch war und auf die ich reingefallen bin.

"Ich bin total abgefahren auf eine Frau!"

Das war der zweite Blitzschlag an diesem Tag. Mit großem Aufwand versuchte ich zu verhindern, dass man mir irgendwelche Gefühle ansehen konnte. Gott sei’s Gedankt, mein Unterbewusstsein funktionierte noch und so hörte ich mich auch gleich antworten: "Aha, du Glücklicher."

Es konnte mir doch egal sein und ich ärgerte mich, dass ich mich ärgerte.

Er erzählte einfach weiter: "Stell dir vor - ausgerechnet im Zug kennengelernt. Ich meine, da fährst du ahnungslos in einem Intercity durch die Lande und dann trifft es dich plötzlich mittendrin."

Ich achtete darauf, dass mir meine Gesichtszüge nicht entgleisten.

"Sie heißt Sue, ist rabenschwarz und besitzt die aufregendste Stimme der Welt."

Was sollte ich darauf nur antworten? Ohne es recht zu merken rutschte mir dann dieser ekelhafte, total bescheuerte und ätzende Satz über die Lippen: "Komisch, ich dachte immer, du wärst schwul."

Nachdem ich das gesagt hatte, hätte ich mich kurzerhand am liebsten geohrfeigt.

Einen Moment lang war Lucas still und sah mich mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen an, dann strich er sich im Zeitlupentempo eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht.

"Aha, ein paar Vorurteile hast du also doch noch." Es klang bissig.

"Gar nicht", sagte ich. "Und Sue ist bestimmt um die Fünfunddreißig und du bist ihr vierzigster Liebhaber."

Jetzt lachte Lucas wieder. "Gar nicht so übel, deine Schätzung. Sie ist Blues-Sängerin, vierunddreißig und macht gerade eine Tournee. Augenblicklich ist sie in Berlin."

"Und da willst du jetzt auch in."

"Genau. Als ich von Peter erfuhr..."

"Peter ist nicht da", unterbrach ich ihn schroff.

Ich fühlte mich miserabel. Gut, dass meine Mutter auftrat und die Szene in den Griff bekam.

"Tag, Lucas - ich hab Sie ja schon ewig nicht mehr gesehen."

"Sie können mich ruhig weiterhin duzen.", sagte dieser und lächelte gewinnend.

"Warum steht ihr denn hier draußen rum? Komm doch rein. Peter wird sicher auch gleich da sein, den Kuchen nachmittags lässt er selten ausfallen. Wie wäre es, wenn du einfach mitisst? Mandy, hol doch noch ein Gedeck."

Mama führte Lucas ins Wohnzimmer, der ihr auch gehorsam hinterher trottete.

Schnell zog ich die Tür der Küche zu, in der auf dem Tisch immer noch Mamas Warenlager ausgebreitet lag.

Ich kam gerade ins Wohnzimmer als ich Mutter fragen hörte: "Cinzano oder ein kleiner Sherry? Mandy, du auch einen?"

"Ja, einen Sherry!"

Ich würde mich sinnlos zudröhnen, mit mindestens zwei Sherry!

Dann stießen wir auch noch mit diesen unpraktisch kleinen Gläsern an, als gebe es etwas zu feiern und Lucas prostete mir mit einem Augenzwinkern zu.

So ein Arsch!

Es war ganz schön anstrengend und ich wäre Peter vor Freude beinahe um den Hals gefallen, als er endlich kam. Mama kam zwar noch auf die unglaublich bescheuerte Idee, Lucas zum Abendessen einzuladen, aber dieser lehnte das vernünftiger Weise ab.

Erleichtert zog ich mich in mein Zimmer zurück, Peter und Lucas Stimmen konnte ich nur noch als unverständliches Gemurmel ausmachen.

~~ooO@Ooo~~

Manchmal, wenn etwas echt wichtiges in meinem Leben passierte, schrieb ich das in mein Tagebuch. Es ersetzte mir manches Gespräch. Ich hatte es zu meinem dreizehnten Geburtstag von Karsten geschenkt bekommen, es war aus marmoriertem Papier.

Zuerst war ich sehr erstaunt, so ein Geschenk ausgerechnet von ihm, aber er erzählte mir, dass er auch eines führte. Das erstaunte mich noch mehr. Karsten, der obercoole Mädchenschwarm führte Tagebuch?! Wow!

Der erste Eintrag fiel auf den 27. Juni zurück. Karsten hatte seine erste feste Freundin und nicht mehr so viel Zeit für mich wie früher. Da war ich unglaublich Eifersüchtig auf das Mädchen - Tina hieß sie - und wünschte ihr alles Böse dieser Welt. Heute könnte ich mich darüber nur amüsieren, aber damals war es das Ende der Welt.

Ich blätterte weiter und musste grinsen. Damals war alles anders, ich glaubte Probleme zu haben, die keine waren und heute in meinen Augen einfach nur komisch waren.

Dann kam die Sache mit meinem ersten - und bisher einzigsten – Kuss. Es war auf Karstens Geburtstagsparty, es gab Alkohol und ich hatte zu viel getrunken. Das Mädchen - ich weiß schon gar nicht mehr, wie sie hieß - fand mich ganz toll und irgendwann hatte sie mich an die Wand gedrückt und geküsst. Es war einfach nur ekelhaft. Danach war ich schlagartig nüchtern und bin einfach gegangen.

Daraufhin fing die Phase an, in der ich eigentlich ständig vor der Spielkonsole oder dem Fernseher hockte und ungesundes Zeug in mich reinstopfte. Das Ergebnis war, dass ich um einiges zunahm. Ich wurde nicht wirklich dick, pummelig beschreibt es besser.

Aber auch das ging vorbei und jetzt sah ich gar nicht mal schlecht aus.

Ich stand vom Bett auf und ging zu meinem Schrank, an dem ein großer Spiegel eingelassen war. Ich bin nicht sehr groß, gerade mal 1,73 Meter, dafür zierlich und schmal. Meine Augen waren groß und meerblau, je nach Lichteinfall glitzerten sie manchmal. Mein hellbraunes Haar war ungefähr zehn Zentimeter lang und fiel mir über die Augen.

'Bevor ich in den Urlaub fahr lass ich es noch mal schneiden!' Vielleicht sogar färben, wer weiß?

Ich ging zurück zum Bett und blätterte weiter. Nach dieser Fressphase kam die Zeit, in der ich so gut wie gar nichts aß. Ich nahm rapide ab, wog viel zu wenig. Meine Mutter machte sich wahnsinnige Sorgen um mich, schleppte mich dann auch noch zu einer Ärztin für Essstörungen. Die meinte jedoch nur, dass das alles an der Pubertät liege und wenn diese vorüber sei, wäre alles wieder ganz normal. Sie gab mir ein Rezept für Vitamin- und Mineralientabletten, die meinem Körper fehlten.

Und dann begann ich nachzudenken. Darüber, was *mir* fehlte. Nicht diese dämlichen Vitamine, Mineralien oder so, sonder etwas anderes, etwas tieferes. Der Sinn. Ein Sinn für alles, was ich tat: für die Schule, für Freundschaften, für Liebe.

Wieder ging es zu einer Ärztin, wieder war die Pubertät dran schuld. Es würde einen Sinn geben, sagte die Dame, und wenn die Pubertät vorbei wäre, würde ich schon sehen, welchen. So ein Herzchen! Als ob sie mit solchen dämlichen Sprüchen Selbstmörder von einem Hochhaus runter bekommen würde.

Eigentlich sollte man meinen, dass jemand einem in dieser Phase beistand, aber das war leider nicht so. Von Mutter lernte ich nur, wie man sich am besten anpasst, von meinem Vater, wie man sich am besten verdrückte und von meinem Bruder gar nichts. Der einzigste, der wenigstens Versuchte mir zu helfen war Karsten – bis er eine neue große Liebe fand und wieder keine Zeit für mich hatte.

Ich merkte, wie diese negativen Erinnerungen mich wieder hinunter in meine Depressionen zog. Jetzt könnte ich wirklich jemanden zum reden gebrauchen. Schade, dass Karsten nicht da war.

~~ooO@Ooo~~

"Papa ist gar nicht begeistert von unseren Reiseplänen.", berichtete mir Mama, als ich Montagabend total kaputt nach hause kam. Ich hatte am Albträume gehabt, war unausgeschlafen und von der Arbeit auch nicht gerade aufgewacht.

Sie sah sorgenvoll aus.

"Na, und? Hast du etwa was anderes erwartet?"

"Er denkt an nichts anderes als an seine blöden Fische."

"Du bist erwachsen und kannst tun und lassen, was du willst."

"Warum wir unsere Reise ausgerechnet dann machen müssen, wenn er nicht zu Hause sei, hat er gemeint. Warum nicht in den Herbstferien?"

"Lass dich von ihm bloß nicht rum kriegen!"

"Werde ich auch nicht. Außerdem sind die Hälfte der Reisenkosten schon gezahlt."

Soll Papa doch grollen, vielleicht lernt er daraus auch was für die Zukunft. Mir war ganz wohl bei der Vorstellung, dass ein Mann in seinem Alter und mit seiner Bildung noch was zu lernen hatte.

Inzwischen hatten wir alles hervorragend geregelt. Am Samstag würden wir vor dem Bahnhof in den Bus, am Sonntag wollte Peter aus Berlin zurück sein und würde dann bis zu unserer Rückkehr zu Hause sein. Also wären die glubschäugigen Objekte nicht länger als einen verfluchten Tag unbeaufsichtigt. Und für diesen einen Tag hatte Mama Frau Voigt gewonnen. Zwei Stunden lang hatte sie minutiös unserer Nachbarin die Fressgewohnheiten der kleinen, glitschigen Biester erklärt und ihr die Schlüssel zu unserem Heiligtum anvertraut.

"Ich kaufe noch was für Peter ein", holte Mama mich aus den Gedanken.

Eben fiel mir auf, dass sie Jeans anhatte. 'Steht ihr gut.'

"Die Jeans stehen dir gut, Mama!", lobte ich. "Passen gut zu deinen Augen und überhaupt."

Mamas Augen leuchteten. "Danke. Mir gefällt die Farbe auch, aber normalerweise ist wenig Gelegenheit sie zu tragen."

Normalerweise, das bedeutete, wenn Mama unterrichtete und wenn Papa da war, er fand Jeans an *seiner* Frau nämlich unanständig.

Sie verabschiedete sich und ging zum einkaufen, während ich mir Badewasser einließ. Schon komisch, aber seid ich diesen Ferienjob hatte, badete ich eigentlich jeden Abend.

~~ooO@Ooo~~

Ich lag gerade genüsslich unter massenweiße Schaum in einem inzwischen nur noch lauwarmen Wasser, als das Telefon klingelte.

Lautlos die schlimmsten Flüche die ich kannte - was nichts hieß - vor mich hin murmelnd wickelte ich mich in ein flauschiges Handtuch und tapste zum Telefon.

"Hier spricht der automatische Anrufbeantworter der Nummer sieben-sechs-null-null-eins", sagte ich und betonte jede Silbe übertrieben. "Wir sind im Augenblick nicht errei-..."

"Ja, ja, und hier spricht die Telefonseelsorge von Berlin! Lass den Scheiß und gib mir Mama!"

Peter klang gereizt, das versprach nichts gutes.

"Die ist leider noch nicht zu Hause. Was steht an? Ich richte es aus."

"Ähm, nein, ich möchte es ihr lieber selbst sagen, ich ruf um sieben noch mal an."

Mir schwante schreckliches. Er würde uns doch nicht etwas mit diesen dämlichen Fischen sitzen lassen?

"Wo bist du eigentlich?", fragte ich vorsichtig.

"In Berlin, wo den sonst? In der Pampa direkt vor'm Haus? Ich gebe ab, bleib dran."

"Hallo, Mandy?"

Eine fremde und doch so bekannte Stimme.

"Es ist nicht so, dass ich Mädchen nicht mag", sagte sie. "Es müssen auch nicht immer vierunddreißigjährige Leute sein, im Gegenteil: eigentlich sind mir jüngere lieber."

"Ich weiß nicht, wovon du redest", sagte ich und umklammerte den Hörer.

"Schade, dass du's nicht weißt. Ich dachte nur, ich sag’s dir einfach mal."

Ich musste grinsen. Lucas, das verrückte Huhn.

"Danke", ging ich auf seine Flachserei ein. "Sie haben mir wirklich sehr geholfen. Was ist eigentlich mit Peter?"

"Manchmal entwickeln sich die Dinge anders als erwartet.", war die vieldeutige Antwort. "In seinem wie in meinem Fall."

"Aha, hat wohl nicht hingehauen mit Sue."

"Davon später. Hier steht so ein Gorilla und drückt sich die Nase an der Scheibe platt und ich muss dauernd in seine widerliche Visage sehen. Eigentlich wollte ich dir noch was Nettes sagen, aber das schiebe ich lieber auf später auf, bis du wieder zurück bist."

"Vorsicht, Telefonzellen sind aus Glas und manche Leute können Lippenlesen!"

Mein Herz klopfte heftig und freudig erregt gegen meine Rippen - warum nur?

Ich hörte Lucas leise lachen. "Ja, der Kerl macht mir andauernd schöne Augen, ich werde Mühe haben ihn abzuschütteln. Aber ich habe Joggingschuhe an, er nicht."

Jetzt alberte er wieder und das mochte ich überhaupt nicht. Mein Herzklopfen reduzierte sich abrupt wieder auf Normalzustand.

"Noch was Wichtiges?"

"Ja, pass auf mit den Italienern! Du weißt doch - diese Latin Lovers sind nur auf das eine aus."

"So? Kläre mich bitte auf! Auf was denn?"

"Auf deine Geldbörse."

So ein Kotzbrocken!

"Mach dir keine Sorgen, da ist nichts drin.", erklärte ich abschließend, was Vernünftiges war von dem ja eh nicht mehr zu erwarten. Am Ende unseres Gesprächs hatten wir wieder mal beinahe gestritten, aber aus unerklärlichen Gründen war ich trotzdem froh, mit ihm geredet zu haben.

~~ooO@Ooo~~

Es fiel mir doch schwerer, als ich dachte, in der Firma bescheid zu sagen, dass ich ab nächster Woche nicht mehr kommen würde.

Am Mittwoch fing ich an, wie eine wandelnde Trauerweide rumzulaufen, benutzte sogar das Make-up meiner Mutter um mich ein wenig blasser zu schminken und Augenringe hervorzuheben.

Herr Frick war natürlich der Erste, dem es auffiel und mich darauf ansprach. "Nanu, was ist denn mit Ihnen los? Gestern abend zu lange weg geblieben oder was?" Dabei zog er eine dämliche Grimasse.

"Nicht das ich wüsste", sagte ich kühl und erklärte ihm etwas von einem im Sterben liegenden Onkel an der Nordsee.

Er betrachtete mich mit hochgezogener Augenbraue und sagte misstrauisch: "Na, wenn das mal stimmt."

Arschgesicht! Er würde mich auf keinen Fall hier halten, so viel war sicher.

Bei meinen Rundgängen durch die Büroetagen traf ich jede Menge Leute. Um es kurz zu machen: am Donnerstagnachmittag wusste jeder Bescheid und die Lady von der Personalabteilung rief mich zu sich.

Ich würde wirklich nicht gut aussehen und ob ich denn nächste Woche nicht lieber zu Hause bei meiner Familie wäre, als hier. Es wäre kein Problem, die Papiere bis morgen fertig zu machen.

Wie kam ich eigentlich auf die bescheuerte Idee, man würde mich nicht gehen lassen?

Sie würden bis morgen die Papiere machen und ich könnte mich dann immer noch entscheiden, ob ich nächste Woche arbeiten wolle.

Prima Leute hier, irgendwie tat es mir schon fast leid, zu gehen. Am enttäuschtesten schien Herr Frick zu sein.

"Dass sie mir das antut!", murrte er vor sich hin. "Gerade jetzt, wo sie doch das mit der Weiterbearbeitung und den Ausgängen kapiert hat!"

Er amüsierte mich wirklich. Vor zwei Wochen hätte er mich am liebsten auf den Mond oder sonst wohin geschossen und jetzt erklärte er mir, wie willkommen ich doch in der Postabteilung sei und das ich jederzeit wiederkommen könne.

Nicht mal das 'Geständnis' das ich ein Junge sei, konnte ihm in dieser Situation etwas ausmachen.

Anders sah es da bei den jungen Bürofritzen aus. Die meisten waren regelrecht entsetzt als ich ihnen sagte, dass ich kein Mädchen sei. Einige glaubten es mir aber auch erst, als ich mein T-Shirt ausgezogen hatte.

Das verbreitete sich wie ein Lauffeuer und als ich meinen letzten Rundgang machte war von den Typen, die sonst immer um mich herumscharwenzelten nichts mehr zu sehen.

Bevor ich nach Hause fuhr ging ich in die Personalabteilung, verabschiedete mich und holte meinen Lohn ab. Mit dem Geld waren die Hin- und Rückflugtickets nach Japan schon gezahlt!

Ich fuhr schleunigst mit dem Fahrrad nach Hause, ließ mir den Wind durch die Haare wehen und genoss das Gefühl, Geld in der Tasche zu haben.

Und ich freute mich schon echt auf Mamas und meinen Ferientrip.

~~ooO@Ooo~~

"Eigentlich sind wir noch nie zusammen verreist", meinte Mama, nachdem sie sich auf ihrem Sitzplatz im Bus häuslich eingerichtet hatte.

"Doch einmal schon, aber das ist schon Ewigkeiten her", entgegnete ich. "Wir sind damals mit der Bahn an die Ostsee gefahren und Peter und Papa eine Woche später."

Sie ließ ihr Italienischwörterbuch auf den Schoß sinken und starrte aus dem Fenster.

"Stimmt, aber mein Gedächtnis lässt nach, ich kann mich kaum noch daran erinnern."

Danach sprachen wir über Gedächtnis-Trainingsprogramm, Gentransfer und darüber, ob man mit fast fünfzig noch Japanisch lernen kann oder nicht.

"Am besten lernt man eine Sprache, wenn man verliebt ist", behauptete Mama. "Man schreibt sich Liebesbriefe und bei jedem Wort muss man nachschlagen."

"Warst du eigentlich mal in Papa verliebt?"

Die Frage rutschte mir raus, bevor ich darüber nachdenken konnte.

"Seltsam, daran musste ich auch gerade denken", meinte Mama. Sie sah wieder aus dem Fenster, dann zu mir.

"Damals bin ich allein in die Toskana gefahren, obwohl Papa dagegen war. Da waren wir aber noch nicht verheiratet und ich wollte mich prüfen."

"Auf das du dich ewig bindest?"

"Genau das. Und prompt hab ich mich auf dieser Reise verliebt. Und das so richtig." Bei dieser Erinnerung lächelte sie. "Am Ende wollte ich nicht mehr nach Deutschland zurück."

"Zu Papa?" Jetzt wurde ich richtig neugierig. "Das kann ich mir gar nicht vorstellen."

"Wieso nicht?"

"Na ja, du und Papa, ich dachte immer, ihr seid schon im Laufstall miteinander verlobt gewesen und so."

"Unsinn, dein Vater war mir damals noch ein bisschen Fremd und am Ende der Reise sogar ziemlich schnuppe."

Die Geschichte fing an mir richtig Spaß zu machen.

"Lass mich raten wie deine Urlaubsliebe hieß. War er Italiener?"

"Er fuhr auch Motorrad", sagte Mutter zusammenhangslos.

Ich blickte aus dem Fenster und sah ein Trupp Motorradfahrer, die den Bus überholten. Ihre pechschwarzen Helme und Maschinen blitzten im Sonnenlicht.

"Er hieß Luciano."

Fast augenblicklich fiel mir der Name Pavarotti ein und ich musste mir auf die Zunge beißen, das nicht laut auszusprechen.

"So ein Mastroianni-Typ mit weichen Zügen wie die Engel auf den Gemälden Raffaels.", schwärmte sie. "Einfach bildschön!"

Bevor wir das interessante Gespräch weiterführen konnten fuhr der Bus auf einen Rastplatz und wir wurden unterbrochen.

Später sagte Mama dann: "Ich habe damals dann einen Italienischkurs gemacht, damit wir uns schreiben konnten. Der dauerte drei Monate und zum Abschluss sind wir italienisch Essen gegangen. Tagelang war mir danach übel und ich stellte fest, dass ich schwanger war."

"Oh, von Luciano?"

"Nein, natürlich von deinem Vater, damals war Peter unterwegs."

"Und was war dann mit Luciano?"

"Nichts. Ich habe aufgehört, ihm Liebesbriefe zu schreiben und später Papa geheiratet."

"Schade."

"Wieso schade? Ohne Papa gäbe es dich doch gar nicht."

Das bezweifelte ich. "Es ist mein Karma, auf der Welt zu sein. Egal ob Papa oder Luciano mich gezeugt hätte.", erklärte ich meiner Mutter.

"Ich glaube, ich werde wieder anfangen, Italienisch zu lernen", meinte Mama, worauf ich wusste, dass sie mir – mal wieder - nicht zugehört hatte.

Das gleichmäßige Gebrumme des Reisebusses schläferte mich ein und nach kurzer Zeit war ich auch schon im Land der Träume – worauf ich liebend gerne verzichtet hätte!

Ich träumte von braunen Körpern und verführerischen Augen. Leider waren es alles Kerle und schweißgebadet wachte ich auf.

Warum zum Teufel träumte ich *solche* Träume?

Und warum ausgerechnet von *männlichen* Wesen?

Was stimmte nicht mit mir?

Oder lag es einfach daran, dass mir Lucas nicht mehr aus dem Kopf ging?

Ich grübelte vor mich hin und merkte gar nicht, dass ich schon wieder am einschlafen war.

Diesmal träumte ich nicht.

~~ooO@Ooo~~

Als ich aufwachte waren wir endlich in der Toskana.

"Hier hat sich manches verändert", sagte Mama. "Wie lange bin ich schon nicht mehr hier gewesen!"

Die Reise hatte uns alle ganz schön durchgeschüttelt und als wir so gegen dreiundzwanzig Uhr ins Freie stolperten und mit samt unserem Gepäck vor einer weißen Häuserfassade abgeladen wurden, da wünschte ich mir nichts so sehr wie mein eigenes Bett. Und das, obwohl ich die Hälfte der Fahrt verschlafen hatte.

Der Name unseres Urlaubsorts stand in grellweißer Neonschrift und wirkte bei aller Vorstellungskraft nicht so romantisch, wie es in den Prospekten ausgesehen hatte.

Nicht, dass ich viel für Romantik übrig hatte.

Unsere Mitfahrer - und wahrscheinlich wir selbst auch – sahen unter dieser unvorteilhaften Beleuchtung aus wie eine Gruppe Untoter, direkt angereist aus Transsylvanien.

Nun, unsere Zimmer passten wunderbar zu unserer Erscheinung: es roch widerlich nach Fisch, Schimmel und abgestandenem Wasser; die Dusche tropfte fröhlich vor sich hin und es gab ein ziemlich schmales Ehebett, das sich wohl auch nicht mit einer Säge oder ähnlichem in zwei Einzelbetten teilen ließ. An der Decke baumelte eine kahle 25-Watt-Birne die alles steril anleuchtete.

Meine Mutter sah unter diesem Licht bleich und abgespannt und viel älter aus, als sie wirklich war. Gott sei Dank musste ich mir selbst nicht ins Gesicht sehen, sonst hätte mich wohl der Schlag getroffen.

Übermüdet und schlecht gelaunt ließen wir uns auf das Bett nieder.

"Wenigstens quietscht es nicht.", versuchte meine Mutter einen Vorteil aus dieser Lage zu ziehen.

"Hmm, hoffentlich ist das Essen hier nicht genau so schlecht wie die Apartments.", motzte ich vor mich hin.

Das schien wohl das Stichwort gewesen zu sein, den mein Magen gab lautstark knurrend ein Kommentar dazu.

"Ich hab auch Hunger. Am besten gehen wir gleich essen."

Schön, dass Mama und ich uns einig waren.

Unser Apartment lag ziemlich weit vom Schuss und so mussten wir ein ganzes Stück zurücklaufen. Im Freien roch es richtig gut, nach Pinien und Meer, außerdem war die Luft noch angenehm warm.

Der Speisesaal war noch schlimmer als unser Zimmer. Er war total kahl, keine Vorhänge, Blumen oder sonstige Verzierungen und wirkte so steril und gemütlich wie ein Operationssaal.

Das Essen war auch nicht gerade die Wucht, aber was sollte man um diese Uhrzeit auch schon großartiges erwarten? Also würgten wir diese 'kulinarischen Köstlichkeiten' mit Hilfe zweier Krüge Rotwein hinunter.

Dermaßen Beflügelt machte es mir auch nichts aus, mit meiner Mutter ein kleines Ehebett in einem ekelhaft riechenden Raum zu teilen. Außerdem ließen wir die Fenster offen, so dass es wenigstens ein bisschen nach Meer und Frischluft roch.


***

[1] Sperrmüll = Das ist so ne Zeitung, in der man alles loswerden kann, was man nicht mehr braucht. Möbel, Bücher und so was.


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